Mai 10, 2021

Festival-Feeling im Impfzentrum: der Booker & die Pandemie

 

Bevor die Live-Branche wieder boomt und alle Entertainment-Rekorde brechen kann, kämpfen tausende Kulturschaffende in deutschen Impfzentren gegen die Pandemie. Sie helfen dabei, Menschenleben zu retten und erfahren dabei teils ungewohnte Anerkennung. Booker Alexander ‘Äxl’ Schulze erlaubt im gigmit Interview den Blick in eine Branche im Exil, entgrenzte Agenturarbeitszeiten, Bands, die die Pandemie nicht überleben und das Festival-Feeling im Impfzentrum.

Wer Konzert kann, kann auch Impfzentrum

“Deutschlands größte legale Massenveranstaltung” titelte kürzlich der Spiegel und meinte das Impfzentrum in Hamburg, in dem am Tag mehr als 8.000 Impfdosen verspritzt werden. Bei guter Stimmung arbeiten hier auffallend viele Menschen aus der Veranstaltungsbranche. Auch in Berlin verdienen etwa 800 Kulturschaffende ihr Geld nun in Impfzentren – darunter das Who is Who der Techno-Szene. “Wer Großkonzert kann, kann auch Impfzentrum”, sagt Jens Quade vom DRK. Es sei ein besonderer Menschenschlag, der sehr gut mit Menschen kann und auch in schwierigen Situationen die Nerven behält.

Booker Äxl Backstage
Alexander “Äxl” Schulze von Magnificent Music Backstage im März 2020

Booking Agent im Gesundheitsamt

Wer sind diese Leute? Was treibt sie an? Und wie geht es ihnen bei der neuen Arbeit? Wir haben jemanden gefragt, der es am eigenen Leib gerade sehr intensiv miterlebt und hier seine Bestimmung gefunden zu haben scheint. Alexander “Äxl” Schulze ist Booker und ein leidenschaftlicher und loyaler Live-Musik-Nerd, der seine Obsession zum Beruf gemacht hat. 2006 gründete er die Booking Agentur MAGNIFICENT MUSIC und bucht alternative Gitarrenrock Bands wie Mother Tongue, Kadavar, DeWolff oder Suzan Köcher’s Suprafon.

gigmit: Äxl, warum arbeiten so viele Kolleg*innen aus der Live Branche im Impfzentrum?

Äxl: Weil die Kolleg*innen aus der Veranstaltungsbranche perfekt dafür qualifiziert sind große Menschenmengen Tag für Tag zu organisieren und organisatorische Abläufe zu gestalten.

Wie können wir uns, die seit über einem Jahr auf Konzerte und Orte mit vielen Menschen verzichten müssen, ein Impfzentrum vorstellen?

Ein Impfzentrum fühlt sich für jemanden, der ein Jahr Kontaktbeschränkungen hinter sich hat, fast wie ein Festival an. Es ist eine geschäftiges Halle, die voller Aktivtät brummt. Der Personalschlüssel ist extrem hoch. Man wird als Impfling förmlich bei jedem Schritt begleitet. Alles greift reibungslos inanander – wie am Fließband. Und es ist – wenn man dann endlich geimpft wird – perfekt bis ins letzte Detail organisiert.

Was machst du als Booker jetzt, da keine Festivals und Konzerte stattfinden?

Ich arbeite aktuell in zwei Jobs ca. 45-50 Stunden pro Woche. Ein kleiner Nebenjob, den ich schon vor der Pandemie hatte. Und als neuen Hauptjob 4-5 Tage pro Woche im Gesundheitsamt. Dort arbeite ich als Kontaktpersonen- und Positivermittler. D.h. ich identifiziere positiv auf SARS-CoV-2 getestete Personen, isoliere diese und ihre Haushaltmitglieder, teste die Haushaltmitsglieder, ermittele Kontaktpersonen und schicke diese ebenfalls in Quarantäne. Das Gesundheitsamt stellt ständig neue Ermittler ein und mit diesen führe ich die Schulungen und Coachings durch. Außerdem habe ich inzwischen organisatorische Aufgaben in der Corona-Abteilung übertragen bekommen.

Wie hat sich dein Berufsalltag dadurch verändert?

Äxl in seinem neuen Büro im Gesunheitsamt
“Vorzüge eines richtigen Jobs” – Äxl in seinem neuen Büro

Durch diese Arbeit und die Beschränkungen ist mein Alltag sehr geregelt geworden. Ich gehe um 23 Uhr ins Bett, stehe um 6 Uhr auf – jeden Tag. Dazwischen arbeite ich oder verbringe die Freizeit mit Spaziergängen und Büchern. Das ist ein krasser Gegensatz zu meinem Alltag vor der Pandemie, der durch entgrenzte Agenturarbeitszeiten sowie irregläre Wochen- und Tageszeiten geprägt war. Durch Anwesenheit auf Konzerten, nächtlichen Aktionen, Treffen mit Künstlern, Partnern und Kollegen.

Welche Kompetenzen, die du als Booker mitbringst, sind in deinem neuen Job besonders gefragt?

Die kommunikativen Kompentenzen haben mir wertvolles Rüstzeug mitgegeben, aber auch das Organisieren und Kanalisieren von vielen Informationen, sowie das flexible Reagieren auf sich ständig ändernde Situationen. 

Was nimmst du als Erfahrungen aus diesem Job mit ins Livemusik-Leben danach?

Ich genieße die Vorzüge eines “richtigen” Jobs, d.h. Feierabend zu haben, nicht selbstständig zu sein, stets honoriert zu werden. Der Job im Gesundheitsamt ist “am Puls der Zeit”, sinngebend, actionreich, herausfordernd und sehr spannend. Momentan kann ich sagen, dass ich meine Bestimmung mit diesem Job gefunden habe. Wie es nach der Pandemie weitergeht, das lasse ich momentan noch offen. Ich bin mir unsicher, ob ich in das Bookinggeschäft nach zwei Jahren Pause zurückfinden kann.

Was passiert jetzt mit “deinen Bands und Clubs”?

Die meistens meiner kleineren Bands haben sich ins Private zurückgezogen, proben also nicht mehr. Nur wenigene haben es geschafft, die Pandemie zu nutzen, um ihr digitales Profil auszubauen und zu schärfen oder kreativ zu sein und neues Material aufzunehmen. Ich befürchte daher, dass es allgemein viele Künstler*innen geben wird, die vielleicht nicht mehr in den kreativen Prozess zurückkehren, wie er vor der Pandemie war. Weil sie aus dem Tritt gekommen sind. Oder weil sie nicht mehr daran anknüpfen können.

Wie wird sich die Branche nach Corona wandeln?

Ich bin Anhänger der Roaring 20s Hypothese. Es wird einen Nachholeffekt geben, die Nachfrage nach Entertainment aller Art wird die nächsten Jahre sehr hoch sein und die Branche wird in allen Bereichen, vom Graswurzelclub bis zu den größten Entertainern der Welt, boomen und alle vorherigen Rekorde brechen. Für jede Band die hingeschmissen hat, werden sich fünf neue gründen. Auch die Clubszene ist, glaube ich, sehr resilient. Was wir verlieren, wird bald ersetzt durch Neues. Der Digitalisierungsschub ist kein Strohfeuer, sondern nachhaltig. Streaming und Hybridveranstaltungen werden bleiben und sich weiter entwickeln.

Aftermovie MAGNIFICENT MUSIC FESTIVAL 2019

Welche Schlüsse ziehst du persönlich?

Ich habe persönlich viel in der Pandemie gelernt. Sie stellt für mich eine Zäsur dar. Ich würde mir wünschen, dass die Welt als globale Gemeinschaft auch etwas gelernt hat. Aber es sieht nicht so aus. Und ich will jetzt endlich wieder ein Livekonzert sehen. Ja, ich bin fest entschlossen keinen der Gigs mehr zu verpassen, die ich unbedingt noch sehen wollte. Keine Ausreden mehr und dafür nur noch das, was ich wirklich sehen will!

Danke dir vielmals, Äxl!


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